Beschnitten

luglio 11, 2012


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Von Christian Walter

Einmal mehr steht eine Gerichtsentscheidung zum Thema Religion im Mittelpunkt einer öffentlichen Debatte. Die Diskussion um die Beschneidung minderjähriger Jungen hat sich inzwischen weitgehend vom strafrechtlichen Ausgangspunkt der Entscheidung des Landgerichts Köln gelöst. Es geht nun viel grundsätzlicher um die integrationspolitischen Wirkungen des Urteils, das Verhältnis der säkularen staatlichen Rechtsordnung zu religiösen Riten und natürlich auch um das deutsch-jüdische Verhältnis. Und wer wollte es den Betroffenen verdenken, dass sie das Urteil in dieser grundsätzlichen Dimension sehen? Das Strafrecht ist das schärfste Schwert, das der öffentlichen Gewalt im Rechtsstaat zur Verfügung steht. Eine strafrechtliche Verurteilung kann nicht nur besonders einschneidende Sanktionen nach sich ziehen, sondern sie brandmarkt vor allem auch die bestrafte Handlung als für die Gesellschaft völlig inakzeptabel. Trifft ein solches Unwerturteil einen zentralen, ja, den der christlichen Taufe vergleichbaren identitätsbegründenden Ritus einer Religionsgemeinschaft, so müssen sich deren Mitglieder zwangsläufig gesellschaftlich ausgegrenzt fühlen. Das ist die Situation, in der sich viele Juden und Muslime in Deutschland derzeit befinden.

Damit ist noch nichts dazu gesagt, ob die Entscheidung des Landgerichts Köln juristisch richtig oder falsch ist. Sehr deutlich wird aber, dass das Recht, und gerade auch das Strafrecht, nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum operiert, sondern immer in seiner Wechselwirkung mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen gesehen werden muss. Von der Vorstellung der Gerichte als Subsumtionsmaschinen hat sich die moderne Rechtswissenschaft längst verabschiedet. Gerichte dürfen und müssen deshalb den rechtlichen und gesellschaftlichen Kontext bedenken, in dem sie ihre Entscheidungen treffen. Zum rechtlichen Kontext gehört etwa eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg aus dem Jahr 2002, in welcher ein Sozialhilfeanspruch nicht nur auf Übernahme der Kosten für die Beschneidung, sondern auch ein Zuschuss für die angemessene Ausrichtung des dazugehörenden Festes gewährt wurde. Kann man ernsthaft annehmen, dass die drei Berufsrichter des erkennenden Senats mit den knappen Ressourcen des Sozialstaats die Begehung einer Straftat finanzieren und außerdem ihre gebührende Feier ermöglichen wollten?

Im internationalen Kontext ist das breite Werben der WHO für Beschneidungen von Bedeutung, das zudem ausdrücklich auf Vorteile einer frühkindlichen männlichen Beschneidung verweist. Es mag sein, dass die medizinische Indikation für den mitteleuropäischen Raum nicht besonders ausgeprägt ist. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, ob etwas, das im weltweiten Maßstab empfehlenswert ist, in Deutschland dem Verdikt der rechtswidrigen Körperverletzung unterfallen kann. Diese Überlegungen sind selbstverständlich keine Maßstäbe für die Interpretation des deutschen Strafgesetzbuches. Aber sie hätten das Landgericht dazu veranlassen können, vor dem Erlass des Urteils noch einmal seine Plausibilität im nationalen und internationalen Kontext zu reflektieren.

Auch Religionen operieren nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum. Zwar definieren sie sich nicht selten gerade in Abgrenzung zur Mehrheit und betonen ihre Autonomie. Aber diese Autonomie wird ihrerseits von der staatlichen Rechtsordnung begrenzt. Deshalb kann der Hinweis auf die lange Tradition und die besondere, identitätsbegründende Bedeutung der Beschneidung für Muslime und Juden zwar deutlich machen, wie schwer der Eingriff für sie wirkt. Er kann aber für sich genommen nicht die Grenzen des staatlichen Rechts überwinden. Im modernen Rechtsstaat ereignet sich Religion nur noch innerhalb der staatlichen Rechtsordnung. Wo letztere selbst unter Berücksichtigung der Religionsfreiheit keine Ausnahmen zulässt, müssen sich Religionsgemeinschaften und ihre Mitglieder fügen.

Wo aber liegen nun diese Grenzen des staatlichen Rechts? Das Landgericht Köln argumentiert vor allem mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit der Kinder und der im Bürgerlichen Gesetzbuch normierten Verpflichtung der Eltern, ihr Sorgerecht im Interesse des Kindeswohls auszuüben. Mit dem Kindeswohl sei eine Einwilligung in eine medizinisch nicht indizierte Körperverletzung unvereinbar, wofür auch das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung spreche.

Zunächst erstaunt der Vergleich mit der Prügelstrafe. Hat ausgerechnet ein Strafgericht, also ein Gericht, das sich berufsmäßig mit Sanktionen beschäftigt, nicht erkannt, dass es die zwangsläufig mit körperlicher Züchtigung verbundene Erniedrigung und Herabwürdigung ist, die diese als Erziehungsmittel unerträglich macht? Es bleibt unerfindlich, wo bei der Beschneidung eine vergleichbare Instrumentalisierung körperlicher Gewalt liegen soll. Aus dem Anspruch der Kinder auf gewaltfreie Erziehung lassen sich keinerlei Rückschlüsse auf die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der elterlichen Einwilligung in eine Beschneidung ziehen.

Entscheidend ist damit das Argument der Unvereinbarkeit mit dem Kindeswohl im Übrigen. Eltern und Staat sind gleichermaßen auf seine Beachtung verpflichtet. Gerade deshalb kommt es darauf an, die jeweiligen Rollen zutreffend zu bestimmen. Das ist dem Landgericht nicht gelungen. Es übersieht, dass die Eltern das Kindeswohl nicht nur beachten müssen, sondern – in den Grenzen der staatlichen Rechtsordnung – seinen genauen Inhalt selbst festlegen. Das betrifft gerade auch Entscheidungen zur Gesundheit: Manche Eltern entscheiden sich aus weltanschaulichen Gründen gegen bestimmte Impfungen, obwohl diese staatlicherseits empfohlen werden. Andere lassen ihre Kinder in vielleicht übertriebener Vorsorge gegen Krankheiten impfen, für die dies in Mitteleuropa nicht zwingend veranlasst wäre. Manche Eltern lassen ihren Kindern die Mandeln prophylaktisch entfernen, andere sind gegenüber einem solchen Eingriff auch dann noch zurückhaltend, wenn er medizinisch klar indiziert ist. Manche Eltern lassen körperliche Besonderheiten, zum Beispiel extrem abstehende Ohren, chirurgisch korrigieren, andere lehnen dagegen jedwede kosmetische Veränderung ab, auch wenn damit später psychische oder gar physische Belastungen für die Kinder verbunden sind. Auch eine Entscheidung der Eltern für körperlich teilweise extrem belastenden Hochleistungssport schon in jungen Jahren wird staatlicherseits nicht nur akzeptiert, sondern nicht selten sogar gefördert.

Die Liste dieser Beispiele ließe sich ohne weiteres verlängern. Immer geht es darum, dass medizinisch eine Bandbreite von Entscheidungen akzeptabel ist und unterschiedliche weltanschauliche Haltungen der Eltern eine Rolle spielen. Wollte man hier staatlicherseits das Kindeswohl eindeutig in einem bestimmten Sinn definieren und seine Beachtung auch noch mit hoheitlichen Mitteln zwangsweise durchsetzen, so wäre dies das Ende der Freiheit von Eltern und Familien. Der Staat ist erst dann gefordert, wenn eine Entscheidung der Eltern diese Bandbreite verlässt, etwa weil sie, wie die weibliche Genitalverstümmelung, wesentliche körperliche Funktionen erheblich beeinträchtigt oder gegen eine eindeutige medizinische Lehrmeinung erfolgt.

Mit diesen Maßstäben lässt sich die elterliche Entscheidung für die Beschneidung eines minderjährigen Jungen juristisch verarbeiten, ohne dass es überhaupt eines Rückgriffs auf die Religionsfreiheit bedürfte. Gerade weil die medizinischen Vor- und Nachteile der Beschneidung kontrovers diskutiert werden, verlässt eine Entscheidung der Eltern für sie nicht den Rahmen des elterlichen Sorgerechts. Hinzu tritt das in Artikel 2 des Zusatzprotokolls zur EMRK ausdrücklich garantierte Recht der Eltern, ihre Kinder religiös zu erziehen, das die Sozialisation der Kinder in einer Religionsgemeinschaft umfasst. Müsste man, wie es das Landgericht verlangt, auf den Zeitpunkt der eigenen Einwilligungsfähigkeit der Kinder warten, so liefe dieses Erziehungsrecht der Eltern weitgehend leer, weil ihnen – anders als in allen anderen Lebensbereichen – die Möglichkeit genommen wäre, auf die Entwicklung der Kinder Einfluss zu nehmen.

Erhellend ist vor allem der Gegenschluss aus den vorstehenden Überlegungen. In der Entscheidung des Landgerichts und in den sie vorbereitenden wissenschaftlichen Publikationen wird eine Handlung, die nicht aus dem Rahmen des auch säkular Üblichen fällt, erkennbar allein wegen der religiösen Motivation der Eltern als strafrechtlich bedeutsam eingestuft. Hierin liegt ein rechtsstaatlich nicht akzeptabler Eingriff in die Religionsfreiheit. Im Interesse der Kinder ist es richtig und wichtig, dass der Staat sein Wächteramt über die Ausübung der elterlichen Sorge ernst nimmt und gerade auch darauf achtet, dass von Religionsgemeinschaften keine Gefahren für das Kindeswohl ausgehen. Aber religiöse Gefahrenabwehr darf nicht in Religionsabwehr umschlagen.

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