Von Markus Somm, Benedict Neff
Franco Debenedetti spricht über den Berlusconi-Prozess, die Wirtschaft Italiens und seine eigene Geschichte
BaZ: Herr Debenedetti, am 30. Juli entscheidet das Kassationsgericht letztinstanzlich über die Anklage gegen den früheren italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi wegen systematischen Steuerbetrugs. Welches Urteil erwarten Sie?
Franco Debenedetti: Dass die Strafen vollumfänglich bestätigt werden, halte ich für unmöglich. Dass Berlusconi als unschuldig beurteilt wird, ist aber ebenso unwahrscheinlich. Dazwischen gibt es jedoch verschiedene Möglichkeiten.
Die PdL, die Partei Berlusconis, droht, bei einem Schuldspruch die Regierung Letta zu stürzen und massenhaft aus dem Parlament auszuscheiden.
Die Versuchung, Letta zu stürzen, ist gross, und verständlich. Aber ist das im Interesse der PdL und von Berlusconi? Es gibt Leute, die behaupten, wenn Berlusconi den Wahlkampf vom Gefängnis aus dirigieren könnte, würde die PdL die absolute Mehrheit gewinnen.
Was blüht Silvio Berlusconi bei einer Verurteilung?
Die Beschränkung seiner Freiheit, wenn auch nicht im Gefängnis, und womöglich ein langfristiges Verbot, ein öffentliches Amt auszuüben.
Wie würde das italienische Volk auf vorzeitige Neuwahlen reagieren? Welche Parteien könnten profitieren?
Diese Frage bedürfte eines Interviews für sich. Ich versuche, telegrafisch zu antworten. Gewinnen wird die Partei derjenigen, die sich der Stimme enthalten. Beppe Grillo wird den Erfolg der letzten Wahlen nicht wiederholen können. Lista Civica, die Partei von Mario Monti, wird allmählich von der Bildfläche verschwinden. Das Schicksal der Rechten liegt in den Händen der Richter, darüber freue ich mich sehr. PD, die Linke, ist ein grosses Fragezeichen. Die Partei ist so gespalten wie noch nie. Bersani, der frühere Parteisekretär, ist an der Spitze der TTB, Tutto Tranne Berlusconi, was so viel bedeutet wie «alles nur Berlusconi nicht» und das wiederum bedeutet die extreme Linke und Grillo. Letta ist als Regierungschef der natürliche Kandidat. Renzi, der Bürgermeister von Florenz, ist der Newcomer, der das ganze Feld umwälzen könnte. Er ist der Einzige, der in Italien eine moderne, europäische Linke etablieren könnte.
Wie war es möglich, dass die italienischen Behörden auf so befremdliche Weise bei der Ausschaffung einer Dissidenten-Gattin mit der kasachischen Regierung kooperierten?
Nächste Frage, bitte.
Italien ist schon seit längerer Zeit in der Rezession, woran liegt das?
Italien hat weniger Wachstum als praktisch alle industrialisierten Länder der Welt. Dieses schwache Wachstum geht schon auf eine Zeit vor 1994 zurück. Daran also ist ausnahmsweise nicht Silvio Berlusconi schuld (lacht). Er ist aber schuld daran, das Problem über Jahre hinweg nicht wirksam bekämpft zu haben. Das schwache Wachstum geht letztlich zurück auf die 80er-Jahre, als die Welfare-Gesetze lanciert wurden. Aber natürlich gibt es in der italienischen Exportwirtschaft nach wie vor auch Unternehmen, die international kompetitiv sind, etwa in Mode, ?Design, bei hoch spezialisierter Technologie. Das Hauptproblem von Italien sind die hohen Steuern. Mit 68 Prozent hat das Land die höchsten Steuern im Industriesektor von ganz Europa.
Wie beurteilen Sie die ökonomische Situation des heutigen Italiens?
Unser Wirtschaftsminister meinte jüngst, die Lage sei so schlimm wie zuletzt im Jahr 1929. Die Arbeitslosigkeit, besonders unter den Jungen, ist sehr hoch. Ich kann mich kaum an eine ähnlich desolate Zeit erinnern. Das heisst, abgesehen von den 70erJahren, als die Roten Brigaden am Werk waren. Damals sind Tausende Menschen getötet worden.
Wie haben Sie diese Phase persönlich erlebt?
Ich war die ganze Zeit in Italien. Es gibt einige Details, die ich bis heute nie erzählt habe. Um Ihnen ein Bild zu vermitteln: Ich hatte damals einmal Besuch von einem befreundeten Paar in Begleitung eines jungen, mir unbekannten Mannes. Wenig später teilte mir das Paar mit, dass sich dieser Mann in Neapel bei der Vorbereitung einer Bombe selbst in die Luft gesprengt hatte. Anders als etwa die RAF in Deutschland lebten die Brigadisten in Italien nicht gesondert. Sie verkehrten in unserer Gesellschaft, das war das Verrückte. Wir wussten aber nicht, wer sie waren. Dass wir uns vom Terror der Roten Brigaden befreien konnten, haben wir vor allem der kommunistischen Partei zu verdanken. Diese sympathisierte zu keiner Zeit mit den Terroristen. Sie war in dieser Hinsicht wie eine Mauer gegen den Terrorismus.
Waren Sie persönlich bedroht in dieser Zeit?
Ich hatte schon Angst, dass meine Kinder oder ich gekidnappt werden könnten. Mein Bruder musste sich aber mehr Sorgen machen. Er war im Visier der Terroristen und lebte die ganze Zeit unter Polizeischutz.
Wie kann Italien denn das wirtschaftliche Wachstum wieder ankurbeln?
Wachstum kommt von den Leuten und den Firmen. Wenn die Firmen aber Steuern von 68 Prozent zahlen müssen, wie sollen sie da wachsen! Aber nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Arbeiter sind übermässig besteuert. Ein Arbeiter verdient etwa die Hälfte von dem, was er kostet.
Wäre Italien geholfen, wenn das Land aus dem Euro austreten würde?
In ganz Europa gibt es keinen Politiker, der den Austritt seines Landes aus dem Euro unterschreiben würde. Die Folgen wären nicht kalkulierbar.
Welches war für Sie die beste Zeit in der Geschichte Italiens?
Ganz einfach, dann, als ich jung war. In den 50er- und 60er-Jahren. Damals herrschte Aufbruchstimmung. Es kamen viele Süditaliener nach Turin, um in den Fiat-Werken zu arbeiten. Nicht dass die Verhältnisse einfach gewesen waren, im Gegenteil! Arbeiter schliefen zu viert im gleichen Zimmer und damit nicht genug, die Zimmer wurden auch noch im Schichtmodus vermietet. Alternierend schliefen zwölf Arbeiter im gleichen Zimmer. Es kam auch vor, dass Turiner Hauseigentümer an Süditalienern keine Zimmer vermieten wollten. Diese Generation von Süditalienern hat sich jetzt im Norden eingelebt und sie hat sehr viel zum Wohlstand von Turin und Norditalien im Allgemeinen beigetragen. In diesen Jahren war Italien am Wachsen und man hatte keine Bedenken um die Zukunft des Landes. Natürlich gab es die Gewerkschaften und natürlich gab es Streiks. Aber Arbeiter und Unternehmer glaubten an eine Zukunft.
Unabhängig von der Bevölkerungsschicht herrschte Aufbruchstimmung?
Ja, ja. Und diese positive Stimmung setzte sich bis in die 70er-Jahre fort. Ich war damals bei Fiat, hatte die Verantwortung über 45 000 Leute. Wir arbeiteten furchtbar viel, aber wir hatten keine Zweifel, dass wir auf dem richtigen Weg waren.
Während dem Zweiten Weltkrieg waren Sie in der Schweiz. Auch später haben Sie unser Land immer wieder besucht. Wie nehmen Sie die Schweiz wahr?
Wissen Sie, es gibt Gefühle, die wahrscheinlich unrealistisch sind, aber ?jedes Mal, wenn ich die Grenze bei Chiasso übertrete, habe ich das Gefühl, dass ich in einem freien Land bin. Ich weiss, dass ich die Schweiz idealisiere, aber so ist das nun einmal.
Wieso kam Ihre Familie im Zweiten Weltkrieg in die Schweiz?
Wir sind eine jüdische Familie. Die Fabrik meines Vaters arbeitete während dem 2. Weltkrieg auch für die Wehrmacht und die Luftwaffe, deshalb war unsere Familie anfänglich noch geschützt. Als die Deutschen nach dem 8. September 1943 in Italien einzogen, hat mein Vater aber gleich realisiert, dass wir nicht mehr sicher waren. Wir hatten Freunde in Luzern. In Chiasso gingen wir über die Grenze. Es war ganz einfach.
Es war 1943 kein Problem einzureisen?
Einreisen? Wir schlüpften durch ein Loch in einem Netz, gingen über ein Bächlein, beobachtet von einem eidgenössischen Soldaten mit einem Gewehr auf der Schulter. Kurz vorher mussten wir uns verstecken, um einer faschistischen Patrouille zu entkommen. Andere mussten durch die Berge im Winter, andere wurden zurückgewiesen.
Wie ging es in Chiasso weiter?
Wir wurden zuerst im Hotel de la Paix in Lugano aufgehalten, von da wurde uns erlaubt, weiter nach Luzern zu fahren. Zu Weihnachten kamen wir an, wir lebten in einer Luzerner Pension bis zum Ende des Krieges.
Die Schweizer Behörden haben Ihnen nie Probleme bereitet?
Nein. Mein Vater musste sich lediglich jede Woche bei der Polizei melden und wir konnten uns natürlich nicht von Luzern wegbewegen. In Luzern ging ich dann auch zur Schule, nach etwa drei Monaten konnte ich einigermassen Deutsch sprechen. Noch heute lese ich jeden Tag die «Frankfurter Allgemeine». Als der Friede kam, kehrten wir wieder zurück nach Italien. Dieser Schritt war für uns natürlich. In Italien hatten wir unsere Verwandten, das Vermögen und die Fabrik. Der Wiederaufbau war vielleicht die wichtigste Erfahrung meines Lebens. Aber hören wir auf damit, sonst werden wir noch sentimental.
Wenn Sie heute Italien betrachten, sind Sie dann zuversichtlich? Oder wird das Land zu einem europäischen Argentinien verkommen?
Das glaube ich nicht, das soziale Gewebe von Italien ist anders als in Argentinien. Es ist viel dichter. Wir sind nach wie vor eine der ersten zehn Industrieländer der Welt. Wir verfügen über grosse kulturelle Schätze, der Tourismus boomt immer noch, die Leute wollen nach Florenz und Rom und nicht nach Argentinien. Dazu kommt, dass die Bildung in Italien im Allgemeinen doch sehr hoch ist.
Der Süden ist ein Klumpfuss. War die Vereinigung mit dem Norden ein Fehler?
Lassen Sie uns über ernsthafte Dinge sprechen. Es hat keinen Sinn, sich darüber überhaupt noch Gedanken zu machen.
Wie ist das Bild der Schweiz in Italien?
Die Schweiz beschäftigt einzig als Steuerparadies, diesbezüglich ist sie mehr im Verruf als etwa Luxemburg. Zu Unrecht, wie ich meine. Dass die Schweiz überhaupt noch ein Steuerparadies ist, möchte ich bezweifeln. Das Bankgeheimnis existiert ja nicht mehr richtig. Ich bin der Ansicht, dass wir einen Steuerwettbewerb brauchen. Es ist wichtig, dass die Finanzminister nicht glauben, die Steuern einfach hochtreiben zu können, ohne dass sie mit anderen Staaten im Konflikt geraten. Mit Geldwäscherei und Steuerbetrug hat das nichts zu tun.
Sie gelten als klarer EU-Befürworter.
Ich bin ein grosser Europa-Enthusiast, ich schätze seine Vielseitigkeit. Das Gefühl einer kollektiven Zusammengehörigkeit wächst in Europa. Das ist nach dem Zweiten Weltkrieg eine bedeutende Entwicklung. Italien muss aber auf seine eigenen Stärken setzen. Denken Sie an die Arbeiter, die in drei Schichten im selben Zimmer schliefen. Bringen wir einen solchen Willen, eine solche Leidensfähigkeit wieder auf, oder sind wir zu bequem geworden? Ich glaube, wir sind nach wie vor dazu fähig. Wir müssen die italienische Identität wieder finden.
Was ist die italienische Identität?
Das ist schwer zu sagen. Aber so ist es immer, wenn man versucht, die Identität von Gesellschaften zu definieren. Ist das überhaupt notwendig?
Wenn Sie den Begriff einführen, ja.
Darf ich Ihnen eine katechetische Antwort geben? Wer sind deine Nächsten? Natürlich die Leute, die du kennst. Ich kenne nicht alle Leute von Italien. Ich kenne die Identität der Leute mit denen ich eine Beziehung habe.
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Basler Zeitung, 27 luglio 2013
luglio 27, 2013